Wo liegt Ostdeutschland?
Dr. Rudolf Benl
Deutschland als Land der Deutschen kann man unter verschiedenen Gesichtspunkten gliedern: nach
Himmelsrichtungen, nach Sprachlandschaften (Oberdeutschland, Mitteldeutschland, Niederdeutschland), nach Konfessionsgrenzen,
nach Substraten (Germania Romana, bzw. Limes-Deutschland, Germania Slavica usw.), nach Sozialstrukturen (Ostelbien bzw.
Bereich der überwiegenden Gutsherrschaft gegen die südlichen und die westlichen Gebiete des Landes). Nicht bei jeder der
Gliederungsmöglichkeiten stehen alle komplementären Begriffe zur Verfügung (so steht dem ohnehin unglücklichen Begriff
Ostelbien kein Westelbien gegenüber).
Jede dieser Gliederungen bezieht sich auf Räume, keine der genannten Einteilungsmöglichkeiten richtet sich aber nach den
jeweiligen Außengrenzen des Römisch-Deutschen Reiches, des Deutschen Bundes oder des Deutschen Reiches. Historiker und
Sprachwissenschaftler haben - bis jetzt wenigstens - in den Begriff "Oberdeutschland" immer die deutsche Schweiz einbezogen,
auch wenn sie die Zeit nach 1648 im Auge hatten. "Niederdeutschland" umfaßt auch die Gebiete, die östlich der Grenzen des
1806 tatsächlich von der Landkarte verschwundenen Römisch-Deutschen Reiches lagen, soweit sie deutsch besiedelt waren. Auch
vor 1945 ist man also nicht von der geographischen Lage innerhalb eines deutschen Staates - es hat aber niemals nur einen
deutschen Staat gegeben - ausgegangen.
Gezielter Bewußtseinswandel
Wird der Begriff "Ostdeutschland" unter Bezugnahme auf die jetzige Bundesrepublik neu besetzt, kann das für die Bedeutung des
Eigenschaftswortes "ostdeutsch" nicht ohne Folgen bleiben. Die beiden Wörter beziehen sich aufeinander. Ist Kants Heimat
nicht mehr Ostdeutschland, wird der Philosoph über kurz oder lang ebenfalls kein "Ostdeutscher" mehr sein. Es dürfte nicht
möglich sein, ihn auf Dauer als "Bewohner der historischen deutschen Ostprovinzen" zu führen. Östlich von "Ostdeutschland"
kann es nicht noch "historische deutsche Ostprovinzen" geben, sondern nur noch Polen.
Wer sich vergegenwärtigt, in welch kurzer Zeit es den Kräften, denen daran gelegen war, gelungen ist, das Bewußtsein und das
Wissen um ein Viertel von Deutschland aus den Köpfen der Mehrheit der Deutschen zu verdrängen, der wird die Befürchtung, daß
eines Tages die Grenzziehung rückwirkend auch in Hinblick auf die ostdeutsche Kultur und deren Träger voll angewendet wird,
nicht für an den Haaren herbeigezogen halten. Bei Persönlichkeiten die vorderen Ranges sind und uns Heutigen auch zeitlich
noch nahestehen, insbesondere bei solchen, deren künstlerisches Ausdrucksmittel, deren Instrument in erster Linie die Sprache
- die deutsche Sprache - war, wie Immanuel Kant oder Gerhart Hauptmann, wird dies so rasch nicht gelingen. Sehr viel leichter
ist es schon, die Zuordnung von bildenen Künstlern und Musikern zu verunklären. Steine reden entgegen anderslautenden
Bekundungen keine Sprache, zumindest keine für jedermann auf Anhieb verständliche. Auch bei Künstlern und Wissenschaftlern
minderer, doch nicht geringer Bedeutung wird diese Wirkung sehr bald eintreten, erste Anzeichen dafür sind schon jetzt
unverkennbar.
Ein Kunsthistoriker (Hans Josef Böker), der vor mehr als zehn Jahren in einem bekannten, sehr rührigen Verlag ein Buch über
die "Mittelalterliche Backsteinarchitektur Norddeutschlands" herausgab, hat bereits damals an der Oder haltgemacht, mit der
Begründung, daß Polen die Backsteinbauten in seinem Staatsgebiet "in demselben Maße wie die beiden heutigen deutschen
Staaten" zu einem Bestandteil seiner Identität gemacht habe, "so daß ein Versuch ihrer wissenschaftlichen Annexion als Teil
der norddeutschen Backsteinarchitektur unstatthaft wäre". Wie lange wird es dauern, bis jede Beschäftigung mit der Kultur
dessen, was östlich eines innerhalb der bundesdeutschen Grenzen neudefinierten "Ostdeutschlands" liegt, als
"wissenschaftliche Annexion" gebrandtmarkt wird?
Manipulierte Grenzdarstellungen
Die Deutsche Post AG hat vor einigen Monaten in der von ihr herausgegebenen Loseblattsammlung "Wissenswertes über
Briefmarken" unter dem schon in sich falschen Titel "Deutsches Reich 1815 - 1871" eine Deutschland-Karte verbreitet, die im
Osten "zufällig" an der Oder und Neiße endet, ferner die zum Deutschen Bund (bis 1866) gehörenden Teile des Kaisertums
Österreich wegschneidet und im übrigen auch an der Westgrenze Retuschen im Sinne einer offenbar politisch gewünschten
Anpassung an heutige Verhältnisse aufweist. Man sieht, wohin die Entwicklung zu gehen droht und welche Energie von seiten
politisch Agierender aufgewandt wird, um auch über die Vergangenheit voll verfügen und sie nach Belieben handhaben zu können.
Wichtiger als die Tatsachen sind immer die Vorstellungen, die man erfolgreich davon verbreitet und die danach andere davon
haben.
Über das Wesen und die Ausdehnung "Mitteldeutschlands" ist vor allem in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im
Zusammenhang mit den Plänen, das Reichsgebiet neu zu gliedern, eine lebhafte Diskussion geführt worden. Mecklenburg,
Vorpommern und im allgemeinen auch Brandenburg sind damals nicht zu "Mitteldeutschland" gerechnet worden. Insofern ist der
Begriff nach 1945 nach Norden erweitert worden. Ein Rostocker, ein Stralsunder, ein Stettiner aber auch ein Stargarder oder
ein Pyritzer hat sich vor 1945 als Norddeutscher - nicht als Mitteldeutscher und nicht als Ostdeutscher gefühlt. Die Oder
stellte innerhalb Pommerns im Laufe der Geschichte des Landes fast niemals eine Grenze dar, die Landesteilungen verliefen im
allgemeinen an anderen Stellen. Eine alte, bis 1945 fühlbare Grenze in Pommern liegt am Gollenberg, zwischen dem Kamminer
Stiftsland und dem Lande Schlawe. Auch in der brandenburgischen Geschichte ist der Oderlauf nur teilweise eine Grenze von
Belang - das Bistum Lebus etwa umschloß wie später der Regierungsbezirk Frankfurt westlich wie östlich der Oder bzw. der
Neiße liegende Gebiete -, und die alte Westgrenze Schlesiens verläuft an Bober und Queis, nicht an der Lausitzer Neiße.
Dennoch war es nicht unberechtigt, daß man nach 1945 die abgetretenen ostdeutschen Gebiete pauschal unter dem Namen
"Ostdeutschland" zusammenfaßte, einte sie und ihre Bewohner doch das gemeinsame Schicksal, liefen die wahren geschichtlichen
und kulturellen innerdeutschen Grenzlinien doch nicht so weit von den durch die Siegermächte als Außengrenzen gedachten
Linien entfernt, daß sich die Verschiebung der Bedeutung nicht hätte rechtfertigen lassen.
Eigensicht und Fremdsicht
Wenn nun auf dem Gebiet der sogenannten Neuen Bundesländer nach einem "Ostdeutschland" gesucht wird, woran wollte man sich da
ausrichten? Jede Trennlinie etwa, die durch das Bundesland Brandenburg ginge, wäre ganz unhistorisch. Es würde einer Willkür
das Wort geredet, die zu völliger Beliebigkeit der Begriffe und zu heilloser Verwirrung führen müßte.
Gebietsveränderungen hat es in der Geschichte Deutschlands und Europas seit der frühen Neuzeit fast in jedem Jahrzehnt
gegeben. Die geographischen Bezeichnungen wurden nicht stets angepaßt. Wie Völker - sofern sie noch eine Identität aufweisen
- sich selbst und ihre Geschichte sehen, das deckt sich in vielen Fällen nicht mit den Vorstellungen von Nachbarn oder gar
aller Nachbarn. Den Begriff "Oberungarn" verwenden auch nichtungarische Historiker, wenngleich dieses Oberungarn heute den
allergrößten Teil der Slowakischen Republik ausmacht. Der Begriff "Tirol" hat sich wenigstens im Denken der Deutschen nach
1919 nicht auf Nordtirol verengt.
Gebietsgliederungen werden, da es immer eine Eigensicht und daneben eine Fremdsicht gibt, niemals einheitlich ausfallen. Sie
werden außer dem Raum stets auch geschichtliche und kulturelle Voraussetzung einbeziehen. "Abusus non tollit usum", so lautet
ein Grundsatz des römischen Rechts: Ein Mißbrauch hebt den (guten) Brauch nicht auf. Die Falschverwendung eines Begriffes
durch Politiker, Journalisten usw. braucht die es besser Wissenden nicht zu beeindrucken. Als Deutsche und insbesondere als
an der ostdeutschen Geschichte und Kultur Interessierte haben wir keinen überzeugenden Grund, die durch gewaltsamen Akt
zustande gekommene und konsequent vollzogenen Grenzänderungen auch begrifflich nachzuvollziehen und damit weite Teile der
deutsche Geschichte und der deutschen Kultur zu exterritorialem Gebiet zu machen.
Quelle: N&E, Nr. 6/2001
Nachfolgend ist hier, zur Information, die Charta der deutschen Heimatvertriebenen aufgeführt. Bitte besuchen Sie auch den Gedenkraum für die Opfer der
Vertreibung.
Charta der deutschen Heimatvertriebenen
gegeben zu Stuttgart am 5. August 1950
Im Bewußtsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen, im Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen
Kulturkreis, im Bewußtsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker,
haben die erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebenen nach reiflicher Überlegung und nach Prüfung ihres Gewissens
beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegenüber eine feierliche Erklärung abzugeben, die die Pflichten
und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die
Herbeiführung eines freien und geeinten Europas ansehen.
1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das
unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.
2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in
dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.
3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas. Wir haben unsere Heimat
verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit
Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen
wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit
anerkannt und verwirklicht wird. So lange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist, wollen wir aber nicht zur Untätigkeit
verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen, geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen
Gliedern unseres Volkes schaffen und wirken. Darum fordern und verlangen wir heute wie gestern:
1. Gleiches Recht als Staatsbürger nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Wirklichkeit des Alltags.
2. Gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges auf das ganze deutsche Volk und eine ehrliche
Durchführung dieses Grundsatzes.
3. Sinnvollen Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen in das Leben des deutschen Volkes.
4. Tätige Einschaltung der deutschen Heimatvertriebenen in den Wiederaufbau Europas.
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am
schwersten Betroffenen empfinden.
Die Völker sollen handeln, wie es ihren christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht.
Die Völker müssen erkennen, daß das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist,
dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert.
Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut
und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.
Aktuelle Bilder aus der alten Heimat liefert diese
Kamera in Königsberg.